Stadt(fehl)planung
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Die psychischen Folgen sorgloser Stadt(fehl)planung
Alexander Mitscherlich schrieb 1965, also vor 60 Jahren, sein berühmtes Pamphlet „Die Unwirtlichkeit unserer Städte – Eine Anstiftung zum Unfrieden“, welches als Klassiker der kritischen Stadtsoziologie gilt. 50 - 60 Jahre, das ist mittlerweile auch das Alter unserer "geliebten Plattenbauten". Auch jetzt sind wir wieder in einer Situation, wo wir möglichst schnell und möglichst billig, möglichst viel Wohnraum schaffen müssen...
Es gibt auch Chancen:
Dr. Bernd Hunger vom Kompetenzzentrum Großsiedlungen e.V.: „Großsiedlungen haben Zukunft. Sie sind besser an die Notwendigkeiten der Klimaneutralität anpassbar als andere Quartierstypen. Gleichzeitig sind Integrationsprobleme in den Nachbarschaften nicht zu übersehen. Sie werden infolge von Zuwanderung und sozialer Ausdifferenzierung nicht kleiner.“
Worum geht es bei Mitscherlich?
In seinem Pamphlet „Die Unwirtlichkeit unserer Städte – Eine Anstiftung zum Unfrieden“ äußert er seine grundlegende Kritik am Städtebau und an der Stadtentwicklung im Nachkriegsdeutschland. Seine zentralen Thesen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
1. Kritik an funktionalistischer Stadtplanung und Monotonie
Mitscherlich kritisiert die nach 1945 dominanten, funktionalistischen Prinzipien im Städtebau, insbesondere die Entmischung von Wohn- und Arbeitsbereichen sowie die Uniformität und Monotonie der Wohnblocks. Diese Entwicklung führe zu einer „Verödung der Städte“ und verhindere, dass Menschen eine emotionale Bindung zu ihrem Lebensraum aufbauen können. Die „bloß agglomerierte Stadt“ könne keine Heimat werden, weil ihr die Identität fehle.
Also wir Anwohner haben eine emotionale Bindung zu unserem Lebensraum!
(Agglomerationen: Hier spricht man von „agglomerierten Siedlungen“ oder „Agglomerationen“, wenn viele Menschen, Gebäude oder Orte dicht beieinander liegen, also eine Ballung oder Verdichtung von Siedlungen oder Städten vorliegt.)
2. Psychologische Auswirkungen auf die Bewohner
Er betont die negativen psychologischen Folgen der städtebaulichen Fehlentwicklungen: Die lebensfeindlichen, anonymen Räume der neuen Städte wirkten sich schädlich auf das seelische Wohlbefinden und die Kommunikation der Bewohner aus. Mitscherlich spricht von einer Anpassung der Menschen an „inhumane räumliche Gegebenheiten“, die sogar zu Neurosen führen könne.
3. Soziale und politische Dimension
Er macht die Stadtplaner, sowie die unbekümmerte Anpassung der Bewohner für die Fehlentwicklungen verantwortlich. Mitscherlich fordert eine stärkere gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen der Stadtentwicklung. Er plädiert für die Schaffung von Kommunikationsräumen, die Verbindung von Wohnen und Arbeiten und eine solidarische, lebenswerte Stadt.
4. Bewusstseinsbildung und Anstiftung zum Unfrieden
Mitscherlich will mit seinem Werk ein neues Bewusstsein für die Misstände in den Städten schaffen und die Bürger zur aktiven Mitgestaltung anregen. Er fordert eine „Selbsterziehung zur Mündigkeit“ und sieht sein Buch als Anstoß, bestehende Verhältnisse nicht einfach hinzunehmen, sondern kritisch zu hinterfragen und zu verändern.
5. Keine nostalgische Rückkehr zur alten Stadt
Obwohl Mitscherlich die alte, bürgerlich geprägte Stadt als Vorbild für Urbanität und Kommunikation betrachtet, verfällt er nicht in bloße Nostalgie. Vielmehr geht es ihm um die Entwicklung neuer städtischer Lebensformen, die die Fehler der Vergangenheit vermeiden und die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellen.
Zusammengefasst fordert Mitscherlich eine menschenfreundliche, vielfältige und solidarische Stadt, die Identifikation ermöglicht und soziale sowie psychische Bedürfnisse ihrer Bewohner ernst nimmt. Seine Streitschrift gilt als Meilenstein der kritischen Stadtsoziologie und hat die öffentliche Debatte über Stadtentwicklung in Deutschland nachhaltig geprägt.
Welche Maßnahmen schlägt Mitscherlich vor, um die Unwirtlichkeit der Städte zu bekämpfen?
Alexander Mitscherlich macht verschiedene Vorschläge, um Städte lebenswerter zu machen. Dabei geht es ihm vor allem um soziale, psychologische und mitbestimmende Ideen – weniger um genaue Baupläne. Besonders wichtig sind ihm folgende Punkte:
1. Förderung von Bürgerbeteiligung und öffentlicher Diskussion
Mitscherlich fordert, die Stadtplanung nicht als technokratischen Akt über die Köpfe der Menschen hinweg zu betreiben, sondern die Öffentlichkeit aktiv einzubeziehen. Stadtplanungen sollten der Bevölkerung zugänglich gemacht und breit diskutiert werden – etwa in Zeitungen oder im Fernsehen. Ziel ist es, dass Bürger sich für die Gestaltung ihrer Stadt interessieren und engagieren, um ein neues Bewusstsein für städtische Missstände zu schaffen.
2. Schaffung von Kommunikationsräumen
Er plädiert für die Entwicklung von Räumen, die Begegnung und Kommunikation fördern. Die Stadt müsse Orte bieten, an denen Menschen sich austauschen und gemeinschaftlich handeln können, um Vereinsamung und soziale Kälte zu überwinden.
3. Verbindung von Wohnen und Arbeiten
Mitscherlich spricht sich gegen die strikte funktionale Trennung von Wohn-, Arbeits- und Freizeitbereichen aus. Stattdessen sollen Städte so gestaltet werden, dass Wohnen und Arbeiten näher beieinander liegen, was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert und die Identifikation mit dem Lebensraum stärkt.
4. Überwindung von Monotonie und Entmischung
Er kritisiert die uniformen Wohnblocks und die Entmischung der Städte in reine Wohn-, Arbeits- oder Vergnügungszonen. Städte sollten vielfältiger und identitätsstiftender gestaltet werden, damit sie Heimat bieten und soziale Bindungen ermöglichen.
5. Stärkung des Gemeinschaftssinns
Mitscherlich sieht die Notwendigkeit eines „Gruppenkanons“, also gemeinsamer Werte und Regeln, die das individuelle Interesse zugunsten des Gemeinwohls etwas zurückstellen. Dies soll die soziale Integration und das Verantwortungsgefühl der Bürger für ihre Stadt fördern.
6. Integration von Natur und Spielräumen
Er betont, dass Städte auch elementare Bedürfnisse nach Natur, Spiel und freiem Raum erfüllen müssen – insbesondere für Kinder, die nicht nur auf asphaltierten Flächen, sondern auch mit Wasser, Erde und Pflanzen aufwachsen sollten.
Zusammengefasst:
Mitscherlich wünscht sich eine Stadt, die freundlich zum Menschen ist: offen, vielfältig und solidarisch. Die Menschen sollen mitbestimmen können, Wohnen und Arbeiten sollen näher zusammenrücken, und es soll Orte für Gemeinschaft, Natur und alle Altersgruppen geben.
Vieles davon wird inzwischen gern gewollt, aber wie wir gerade selbst merken, ist in der Realität die Umsetzung weiterhin schwierig.
Quellenangabe:
- Perlentaucher – Mitscherlich
- Stadtbaukunst – Was kostet die Stadt?
- Dieter Wunderlich – Rezension
- Deutschlandfunk – Mitscherlich
- Raumnachrichten – Rezension
- Zeithistorische Forschungen
- VHS Essen – Ästhetik des Bauens
- FR – Unwirtlichkeit eines Platzes
- Young Planners E-Book
- Deutschlandfunk – Betonwüsten
- Siess & Gehmann – Loss of Free Citizenship
- H-Soz-Kult – Rezension
- UBC – Volltext
- Benad – Heimatwärme Artikel
- Soziales Kapital – Mitscherlich Kontext
- Buecher.de – Buchlink
- OhioLink – Thesis
- Spiegel – Unser aller Versagen
- De Gruyter Brill – Fachartikel
- smow Blog – Profitopolis
